Cancer Survivor – Identität oder Stigma?
Warum ich den Begriff nutze
Schon wieder ein Label. Warum sollte man sich nach oder sogar mit der Erkrankung als Cancer Survivor sehen? Das klang für mich zunächst nach Überlebensstolz nach geschlagener Schlacht und gegen Kriegsmetaphern habe ich mich schon während der Behandlung gewehrt. Aber der Begriff verfolgte mich – im Internet, Social Media und auf Fachkongressen. Auf dem diesjährigen Deutschen Krebskongress wurde der Begriff kontrovers diskutiert – schafft er eine neue Identität oder ein weiteres Stigma?
Es gibt gute Gründe diesen Begriff abzulehnen. Betroffene wehren sich dagegen, diejenigen auszugrenzen, die ihre Erkrankung nicht überwinden, die es „nicht geschafft haben“. Der Begriff enthalte den Vorwurf, dass man als Betroffener mehr hätte tun können und am Ende den „Kampf“ verloren hat. Und zugegeben – es ist schon ein Kampf die Behandlung durchzustehen.
Weshalb ich den Begriff trotzdem für passend halte?
Er stiftet Identität für Betroffene, die sich ab dem Zeitpunkt der Diagnose ihr Leben lang mit erhöhten Gesundheitsrisiken aufgrund der Behandlung und psychosozialen Herausforderungen konfrontiert sehen, gleich, ob der Krebs überwunden oder chronisch wird.
Das Leben mit und nach dem Krebs
Das Leben nach der Diagnose ist nicht wie das Leben davor. Die Krankheitserfahrung mit den Veränderungsprozessen, die sie anstößt, zu integrieren, fordert lebenslange Identitätsarbeit. Warum also nicht einen Begriff nutzen, der dieser Situation einen Namen gibt? Vielleicht ist die Kriegsmetapher an dieser Stelle gar nicht so fernliegend. Ein Blick auf unsere Goßeltern-/Elterngeneration lässt uns erahnen, was Identitätsarbeit nach einer Traumatisierung bedeuten kann.
Der Begriff Cancer Survivor hilft, Bewusstsein für die Versorgungssituation Betroffener zu schaffen und sie zu verbessern. Krebsbetroffene sind eine relevante Gruppe in unserer Gesellschaft. Dank verbesserter Therapiemöglichkeiten überleben weit mehr Betroffene ihre Erkrankung oder leben länger mit ihr – und sind über ihre Lebensspanne hinweg mit besonderen Herausforderungen konfrontiert: Mit der Erkrankung selbst, mit Langzeiteffekten und Spätfolgen, die den Alltag beeinflussen. Hier ist es nötig, hinzuschauen und aufzuklären – die Gesellschaft, aber auch Ärzte über die Zusammenhänge, die nicht immer bekannt sind.
Gesund, aber nicht geheilt = Cancer Survivor?
Spätestens nach Abschluss der Nachsorgephase gilt man nicht mehr als „Patient“. Man gilt im besten Fall als „gesund“, aber der Zustand vor der Erkrankung wird doch nie wiederhergestellt, weder physisch noch psychisch. Man lebt mit der Unsicherheit, dem Vertrauensverlust in den eigenen Körper, mit der Ent-Täuschung darüber, gefasste Lebenspläne vielleicht nicht umsetzen zu können und der Erfahrung, dass das Leben plötzlich enden kann, nicht erst dann, wenn es gelebt ist. Die Unbefangenheit geht unwiderruflich verloren. „Gesund – aber nicht geheilt“ ist eine häufig genutzte Überschrift für diese Situation.
Cancer Surviror sind Botschafter für das Leben
Viel anfangen kann ich mit dem Argument, dass Krebsüberlebende Botschafter für das Leben sind und in der Öffentlichkeit dazu beitragen können, Vorsorgemaßnahmen zu fördern und Neuerkrankten Hoffnung zu geben – für die Zeit mit und nach dem Krebs. Auch mir hat es geholfen, Beispiele zu haben und mich an anderen zu orientieren, die einen Schritt voraus waren.
Ist der Begriff Cancer Survivor tatsächlich ausgrenzend? Ich denke nein. Es kommt wohl auf die Absicht an, mit der er verwendet wird. Eine feste Definition gibt es nicht. Ich sehe die Debatte als Aufforderung, sich zu fragen, wie man sich selbst sehen möchte.
Den Blick in das Leben richten
Mir sind viele Krebsbetroffene begegnet, zu denen ich aufschaue, deren Lebensperspektive sich gewandelt, verengt oder geendet hat. Unter einem Cancer Survivor verstehe ich eine Person mit der Krankheitserfahrung Krebs, die die Herausforderung angenommen hat, nicht nur zu über-leben, sondern sich dem Leben bewusst zuzuwenden – ganz gleich, mit welcher Lebenserwartung. Die Situation annehmen und dem Leben Inhalt geben, Dinge so zu gestalten, wie es einem selbst entspricht. Die eigenen Grenzen zu beachten, dafür einzustehen, selbstfürsorglich zu sein. Cancer Survivor zu sein, ist für mich persönlich eine Frage der inneren Haltung, nicht des Gesundheitszustands.
Sydonia lernte ich über die Selbsthilfe kennen, wir engagierten uns gemeinsam im Verein Leben nach Krebs! Sie hatte diese Haltung, kam auch noch mit Krücken und künstlicher Ernährung zu unseren Treffen, hielt Vorträge und unterstützte Betroffene, die an ganz anderen Wegstationen waren, als sie selbst. Es gab ihr viel. Sie ist 2017 verstorben – und wird für mich dennoch ein Cancer Survivor bleiben.
Cancer Survivor zu sein, bedeutet für mich, den Blick auf das Mögliche zu richten, auf die Ressourcen, nicht nur auf die Verluste und Einschränkungen. Anerkennen, was ist und selbstbestimmtes Leben mit Teilhabe und Lebensqualität ermöglichen.
Ich werde diesen Begriff nutzen.